Hand aufs Herz: Wie oft schauen Sie nach neuen E-Mails? Wie oft surfen Sie mit Ihrem Smartphone? Wie oft haben Sie das Gefühl, wirklich Zeit zu haben? Ich überlasse Ihnen die Antworten; wenn Sie aber meinen Artikel über die Rennerei lesen, vermute ich, dass es Ihnen wie mir geht.
Wir sind mitgerissen in dem Zeitgeist-Mainstream-Strudel und dabei oder auch dadurch entwurzelt. Alles muss schnell gehen, denn wir sind nur gut, wenn wir schnell sind! Wer langsamer ist, verliert. Wer keinen schnellstmöglichen Termin verspricht, dem wird ein schnellerer Exekutor vorgezogen. Wer nach Feierabend nicht ans Telefon geht, ist nur ein Beamter oder Angestellter – unsereins ist rundum erreichbar und verfügbar. Eine unbeantwortete Mail innerhalb von 48 Stunden ist unprofessionell – von unsereins erwartet man Response innerhalb einer Stunde; und das erwarten wir eigentlich genauso von unseren privaten wie Geschäftspartnern.
Was aber steckt hinter dieser Rennerei? Und warum ist die gute alte „Entschleunigung“ vielleicht eine Methode, die der nachhaltigen Entwicklung dient?
Der Dokumentarfilm „Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Florian Opitz widmet sich diesem Thema. Für unser schnelllebiges, verknapptes Zeitgefühl werden in Opitz‘ Film unterschiedliche Gründe benannt:
Ein Grund sind die Informationstechnologien, die uns mit unzähligen Informationen und Wahlmöglichkeiten überschütten, denen niemand gewachsen ist. Jeder Mensch kann nur eins nach dem anderen tun, auch wenn es bei Frauen und wenigen Männern eine Abwechslung zwischen einzelnen Schritten mehrerer paralleler Aufgabenstränge ist – das Multitasking.
Der zweite Grund wird im Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsgeist identifiziert. Es wird gezeigt, wie bei Reuters globale Echtzeitinformationen für den Börsenhandel auf Computer und Smartphone angeboten werden und wie automatisierte Rechner Handel betreiben, weil man Gewinne innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde machen kann. Des Filmemachers Opitz Fazit dazu: Der Schnellere frisst den Langsameren.
Für mich ist dies die richtige Brücke zu den zunehmenden Burnout- und Stress-Symptomen unserer Zeit. Wenn man immer schneller sein muss, dann kommt diese innere Unruhe aus der Angst, verdrängt und gefressen zu werden – im übertragenen Sinne. Angst könnte also durch das vorherrschende kulturelle System gesteigert werden und sich direkt ungesund auswirken – womit es als Gegenteil einer sozialen Nachhaltigkeit gelten kann. Wenn aus dieser Haltung heraus Entscheidungen getroffen werden, ob von Computern oder Menschen, glauben Sie, dass dabei eine weise Handlung entsteht, welche der Komplexität der Handlungsfolgen gerecht wird? – Nein. Es werden maximierte Gewinne errannt und alle übrigen Parameter, sprich Konsequenzen, ignoriert oder bewusst in Kauf genommen.
In unserer Praxis sind es die „Vorgestern-muss-es-fertig-sein!-Kunden“, die es unmöglich machen, sich aus dem Zeitgeist zu lösen, wenn man doch von Aufträgen für Kunden lebt. Wieviel in der erwarteten Flexibilität durcheinander kommt, wie das wirkt, wenn es von immer mehr Seiten erwartet wird, weil jeder ausschließlich sein eigenes Anliegen als wichtig ansieht, wird kaum ein Auftraggeber erahnen können.
Ich will lieber schnell zu Lösungen kommen, um bei allem selbstbezichtigenden Humor die Kürze für die Leserin und den Schreiber zu wahren, bevor das gute Stück vom Regin Reuschel redigiert wird und dann zügig über Twitter & Co promotet werden kann. Der KarmaKonsum Gründer Christoph Harrach bietet im September erstmalig ein “Yoga der Nachhaltigkeit”. Yoga und Nachhaltigkeit?
Gymnastik auf einer Matte soll den Abbau von Ölsanden, Fracking, Atommüll oder extreme Personalausbeutung in Asien verhindern? Wie es der Zufall will, habe auch ich eine Yogalehrer-Ausbildung begonnen und weiß, dass die Stress-Symptome durchbrochen werden können. Man kann lernen, aus dem Hamsterrad von Speedy Gonzales, der schnellsten Maus von Mexiko, auszusteigen – wenigstens für 90 Minuten.
Sollen jetzt alle Yoga machen? Ich glaube, es wäre gut. Vermutlich aber ist es besser, wenn – wie in all diesen Strukturen der nicht nachhaltigen Kultur – diverse kleine, individuelle Schritte gegangen werden. Beim Umweltforum in Hannover hatte ich einmal wieder gute Gespräche über Nachhaltigkeit – man kommt vom Hundertsten ins Tausendste und erkennt, dass wir unmöglich eine Strategie finden würden, mit der wir alles lösen könnten. Stattdessen sind es immer wieder bescheidene einzelne Schritte – ohne die alles noch weit fataler wäre.
Was ist mein Fazit?
Nein, die Rennerei ist nicht nachhaltig. Wer sich davon ab und an lösen kann, wird mit Sicherheit häufiger ganzheitliche Handlungen praktizieren.
Was jedoch auch zu berücksichtigen ist: Für die Darstellung einer „Zeitlupe“ braucht man eine schnelle Bildfolge. Slow Motion allein geht nicht. Wir brauchen einen gesunden Wechsel von An- und Entspannung. Anderenfalls werden wir unversehens burnt out „Früh-Renntner“ – wegen des ewigen „on the run“ mit Doppel-“n“ und „Doppel-Hertz“ statt Doppel-Herz…
Ein besonderer Filmmoment von „Speed“ war für mich die Unternehmensberaterin (Name leider vergessen), die davon schwärmt die Welt zu verbessern, indem sie alle Prozesse beschleunigt. Das empfand ich als regelrecht gruselig. Es ist doch so, dass wir uns viel zu wenig Zeit nehmen zu reflektieren und Innenschau betreiben. Stattdessen hetzen wir von Termin zu Termin und sind Sklaven niemals schrumpfender To-do-Listen.
Nicht nur Stress lässt uns ausbrennen, sondern in meinen Augen vor allem der Sinnverlust. Entspannungsmaßnahmen wie Yoga und dergleichen halte ich für sinnvoll. Vor allem dann, wenn sie nicht nur zum Ausgleich dienen, damit ich Kraft tanke den Arbeitswahnsinn noch eine Weile zu ertragen. Nachhaltig ist das nicht… Viel schwerer ist es da wirklich etwas in seinem Leben zu verändern.
Ich selber war jahrelang arbeitssüchtig und erkrankte Ende 2008 äußerst schwer am depressiven Erschöpfungssyndrom (auch als „Burnout“ bezeichnet). Meine Erfahrungen schildere ich in dem Buch „Einmal Hölle und zurück – Mein Weg aus dem Burnout in ein neues Leben“. Da ich es unter CC-Lizenz veröffentlicht habe, kann man es als E-Book unter http://www.jens-brehl.de/journalist/buch/ frei herunterladen. Wer nicht gern am Bildschirm liest und sich die PDF nicht ausdrucken möchte, kann ab Herbst eine überarbeitete Taschenbuchversion käuflich erwerben.