Heute präsentieren wir Ihnen einen Gastbeitrag unserer Facebook- und Twitter-Spezialistin, Michaela Böttcher. In ihrem Beitrag argumentiert sie, dass Diskussionen über Nachhaltigkeit sich häufig nur auf die ökologisch sinnvolle Dimension beschränken. Wird doch einmal die soziale Säule einbezogen, werden meist Ungerechtigkeiten wie die zunehmend auseinander klaffende Arm-Reich-Schere thematisiert. Die Thematik der Geschlechtergerechtigkeit aber bleibt noch immer vielfach unbeachtet.

Der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ fand in den letzten Jahrzehnten Einzug in den alltäglichen Sprachgebrauch. Die Unterstützung von ökologischer Landwirtschaft und FairTrade-Projekten bildete sich dabei als größter Faktor heraus. Frei nach dem Motto: „Ich habe Bioprodukte eingekauft. Ich habe also zur nachhaltigen Entwicklung beigetragen.“ Und das ist natürlich auch ein Schritt in die richtige Richtung. Aber das Konzept der Nachhaltigkeit umfasst weitere Aspekte. Bereits 1987 formulierte die UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung in ihrem Abschlussbericht ‚Our Common Future‘ eine Basisdefinition für das Konzept der Nachhaltigkeit: „Unter ‚dauerhafter Entwicklung‘ verstehen wir eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ Der Nachhaltigkeitsrat in Deutschland drückte diese Basisdefinition 2001 deutlicher aus: „Wir müssen unseren Kindern und Enkelkindern ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Gefüge hinterlassen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.“ Nachhaltigkeit ist also mehr als die Frage, welche Produkte wir konsumieren und welchen Strom wir verbrauchen. Nachhaltigkeit hat eben auch die Aufgabe, unsere Gesellschaft sozial zu gestalten. Und sie umfasst Geschlechtergerechtigkeit.

Gibt es Geschlechterdiskriminierung etwa immer noch?
Wie können wir eine globale, nachhaltige Gesellschaft aufbauen, wenn wir die Hälfte der Bevölkerung benachteiligen? Jedes Jahr „verschwinden“ 2 Millionen Mädchen weltweit aufgrund von Geschlechterdiskriminierung – sei es durch bewusste Abtreibung von weiblichen Föten, durch Ehrenmorde oder auch als Opfer häuslicher Gewalt. Allein in Europa haben 45% der Frauen Gewalt durch Männer erfahren und jeden Tag sterben sieben(!) Frauen in der EU an den Folgen häuslicher Gewalt. Aber nicht nur die exzessive Gewalt ist Teil unserer unsozialen Gesellschaft. So hat auch fast die Hälfte aller Frauen in der EU bereits verbale, nonverbale oder gar körperliche sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren. Und dann verdienen sie an diesen Arbeitsplätzen im Durchschnitt auch noch 20 % weniger als ihre männlichen Kollegen. In Deutschland bezieht eine Rentnerin durchschnittlich 950 Euro weniger als ein Rentner. Es ist also nicht verwunderlich, dass mehr Frauen hierzulande von Altersarmut betroffen sind. Ebenso spüren vermehrt Frauen weltweit die Folgen von Armut und Diskriminierung. Statistiken zeigen, dass bei Hungersnöten oder Dürren größtenteils Mädchen sterben und nicht Jungs. Und auch auf die Gefahr hin, undiplomatisch zu klingen: Das Leiden von Frauen in Entwicklungsländern ist nicht nur dem geringen Einkommen geschuldet. Statistiken zeigen auf, dass Geld für die Familie weniger für Alkohol, Tabak und weitere Verschwendungen, sondern für die Bildung der Kinder, Impfungen und Geschäftsgründungen ausgegeben werden, wenn die Frauen der jeweiligen Familie die Obhut über das Geld haben. Dies ist auch einer der Gründe, warum Kampagnen gegen Armut verstärkt auf Frauen und Mädchen ausgerichtet sind und Mikrokredite meist an Frauengruppen vergeben werden.

Der globale Lösungsansatz: Bildung
Schon Nelson Mandela wusste: „Education is the most powerful weapon we can use to change the world.“ Und sein Denkansatz ist keineswegs neu oder einzigartig. Es gibt haufenweise Zitate und Weisheiten und alle sind sich einig: Bildung kann die Welt verändern. Dabei sollten natürlich Mädchen und Jungen die gleiche Chance auf (Aus-)Bildung bekommen. Und doch sind weltweit zwei Drittel aller Analphabet*innen und 60% der Kinder, die keine Schule besuchen, weiblich. (Reden wir erst gar nicht davon, dass einige Mädchen, die zur Schule gehen, jeden Tag dafür kämpfen müssen und mit unter dafür ihr Leben aufs Spiel setzen.) Beachtet man die Tatsache, dass Bildung viele soziale Faktoren für Frauen verändern könnte, erscheinen diese Zahlen erschreckend. Kinder aus Entwicklungsländern, deren Mütter keine Schuldbildung genossen haben, sind eher unterernährt als Kinder, deren Mütter zur Schule gegangen sind. Ebenfalls reduziert jedes Jahr, in dem Mütter am Unterricht teilgenommen haben, die Kindersterblichkeit um zwei Prozent. Frauen, die mindestens eine Grundschulausbildung haben, wissen mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass Kondome die Gefahr von HIV/AIDS reduzieren. Darüber hinaus gibt es viele weitere Studien, die belegen, dass die schulische Bildung von Mädchen einer der effektivsten Wege ist, Armut zu bekämpfen. Schulbildung ist oft eine wichtige Voraussetzung für Frauen und Mädchen, sich gegen bestehendes Unrecht aufzulehnen oder auch in die nationale Wirtschaft integriert zu werden. So ist einer der Gründe für den wirtschaftlichen Aufstieg Ostasiens, dass Mädchen eine Schulbildung erhielten und anschließend in den Arbeitsmarkt integriert wurden. Heute sind mindestens 70% der Arbeiter*innen in den herstellenden Betrieben in Ostasien weiblich. Der wirtschaftliche Aufschwung kam also mit dem wirtschaftlichen Empowerment (Machtbildungsprozesse) von Frauen.

Geschlechtergerechtigkeit ist nicht nur ein sozialer Faktor
Die erfolgreiche Ausbildung von Mädchen und die anschließende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt sind dabei keine altruistischen Maßnahmen. China, andere Länder in Ostasien, aber auch Entwicklungsländer in anderen Gebieten der Erde und große multilaterale Organisationen haben das Potenzial der weiblichen Bevölkerung erkannt. Die Vereinten Nationen, die Weltbank und UNICEF haben jeweils Untersuchungen durchgeführt und Berichte veröffentlicht. In ihnen wird jedes mal darauf hingewiesen, dass die Investition in Frauen sich langfristig auszahlt. UNICEF argumentiert sogar, dass Geschlechtergerechtigkeit eine doppelte Dividende abwirft. Durch die Unterstützung von Frauen profitieren nicht nur die jeweilige Person sondern auch die Kinder. Und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen ist sich sicher, dass Empowerment von Frauen die wirtschaftliche Produktivität des Landes steigert, Kindersterblichkeit reduziert, Gesundheit und Ernährung fördert und die Chancen auf Bildung in der nächsten Generation steigert. Eine Studie von UN Women in Vietnam untersuchte die finanziellen Folgen von Gewalt gegen Frauen. Sie berücksichtigten dabei den Lohnausfall der Frauen sowie Kosten für medizinische Behandlungen, Polizeiarbeit, psychologische Beratung, juristische Unterstützung und die Schulgebühren, die für die Schulbildung der Kinder bezahlt wurde, die Kinder aber der Schule aufgrund der Gewalt, die ihre Mutter erfahren hatte, fernblieben. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 1,4% des Bruttoinlandsproduktes von Vietnam. Die Frage ist also nicht, ob sich Länder die Geschlechtergleichstellung leisten können, sondern ob sie es sich NICHT leisten können, ihre weibliche Bevölkerung zu unterstützen. Und diese Frage bezieht sich nicht nur auf Entwicklungs- und Schwellenländer. Auch in den Vereinigten Staaten gibt es Politiker*innen, die sich diesem Thema annehmen. So stellte Hillary Clinton fest: „When it comes to the enormous challenge of our time – to systematically and relentlessly pursue more economic opportunity in our lands – we don’t have a person to waste and we certainly don’t have a gender to waste.“ Und Frauen können nur ihr gesamtes Potenzial am Arbeitsplatz entfalten, wenn sie keine sexuellen Übergriffe oder Diskriminierung zu befürchten haben – und für ihre Leistung im gleichen Maße bezahlt werden wie ihre männlichen Kollegen.

Nachhaltigkeit ohne Geschlechtergerechtigkeit? Ohne mich!
Erst, wenn der Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit genauso bedacht und gerne auch genauso heiß diskutiert wird wie momentan die Energiewende, sehe ich eine erfolgreiche nachhaltige Entwicklung. Ich, für meinen Teil, möchte meinen zukünftigen Kindern und Enkelkindern jedenfalls eine Welt hinterlassen, die sozial fair ist und in der Frauen* und Männer* gleichberechtigt sind.
(Michaela Böttcher)